Um das Jahr 1972 wich das Vertrauen in die Nachkriegsordnung und die Fortschrittsmechanik der Moderne einer Atmosph?re von Ern?chterung, Verbitterung und Angst. Reihenweise zerplatzten damals die hochgespannten Erwartungen der 1960er Jahre an revolution?re Ver?nderungen. Aber das ist nicht die ganze Geschichte.
Tom Holerts Text/Bild-Essay f?hrt vor, warum es lohnenswert ist, sich mit der historischen Entit?t "ca. 1972" aufs Neue zu besch?ftigen. Statt sich auf kanonische Personen und Ereignisse zu konzentrieren, verarbeitet das Buch die historischen Fliehkr?fte und r?ckt - vermeintlich - weniger einschl?gige Akteure und Situationen ins Zentrum. Statt in der Linearit?t einer ereignishistorischen Erz?hlung konfigurieren sich die Aufsch?be und Aufbr?che des Jahres 1972 so zu schillernden Gef?gen kultureller, intellektueller und ?sthetischer Zusammenk?nfte und Zusammenbr?che. Ein Ausgangspunkt ist die visuelle Kultur der Zeit. Fotografien, Filme, B?cher, Zeitschriften, Werke bildender Kunst handeln von Unabgegoltenem und bezeugen das Denken und Handeln radikaler Zeitgenoss?innen. Auch weil politische Euphorie und Frustration immer wieder in terroristischen Akten m?ndeten, sollte der solidarische Transfer von Erfahrungen und Wissen dabei helfen, die K?mpfe trotz allem fortzusetzen. Dabei stellt sich heraus: "Gewalt" ist "ca. 1972" eine unumg?ngliche Trope der Selbstbeschreibungen und -diagnosen. So erweist sich ca. 1972 auch als ein Raum zirkulierender Methoden und Theorien - und als der Name einer Methode, Geschichte zu schreiben.
Tom Holert arbeitet als Kulturwissenschaftler und Kurator. Im Jahr 2015 gr?ndete er mit anderen das Harun Farocki Institut, eine Archiv- und Forschungsplattform zu Bildpolitik und Dokumentarismus in Berlin. Aktuellere Buchver?ffentlichungen: Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930 (Hg., mit Anselm Franke, Diapha- nes, 2018; Katalog der gleichnamigen Ausstellung im HKW, Berlin), Knowledge Beside Itself: Contemporary Art's Epistemic Politics (Sternberg Press, 2020) und Bildungsschock. Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren (Hg, 2020, Katalog der gleichnamigen Ausstellung im HKW, Berlin).
