Wer sich ein paar Tage in einigen der st?dtischen Kitas und Krippen der norditalienischen Stadt Reggio Emilia umsieht, mit Erzieherinnen und Eltern spricht, der gewinnt v?llig neue Vorstellungen davon, was ein Kindergarten, eine Krippe sein kann - und wozu Kinder imstande sind, wenn man ihre Kr?fte gezielt und umfassend anregt.
In Reggio ist jede Kita eine kleine Stadt f?r sich, mit einer Piazza in der Mitte, um die sich, durch lichte Glasw?nde abgeteilt, Ateliers, Werkst?tten, B?hnen, Bewegungsr?ume und 'Denk-Ecken' verschiedener Gr??en gruppieren. In Reggio gibt es vor allem Material und Werkzeug: Draht, Lehm, Holz, Ton, Farben und Papier verschiedenster Art, dazu Schrauben, Feilen, S?gen, Pinsel, Scheren, einfach alles, was ein Kind brauchen k?nnte, um sich mitzuteilen. Denn Kinder, so die ?berzeugung der Reggio-P?dagogen, haben nicht nur eine, sie haben hundert Sprachen, in denen sie denken, entdecken, ihre eigenen Geschichten erz?hlen k?nnen. Wer den Austausch mit Kindern auf das gesprochene Wort reduziere, der wird nie verstehen, wie sich ihre Welt-Erfahrung bildet. Und wie soll man Kinder erziehen, wenn man sie nicht einmal versteht? Die Reggianer selbst beschreiben ihre Arbeit gern als 'Pingpongspiel':
Sie fangen die B?lle auf, die ihnen die Kinder zuwerfen, und werfen sie zur?ck, wobei sie h?ufig eine andere Flugbahn w?hlen und manchmal auch den Ball wechseln. Dieses p?dagogische Ballspiel ist kein planloses Hin und Her, sondern eine aufwendige Kombination aus Beobachtung, Analyse und wohl?berlegter Intervention. Die Erzieherinnen verbringen viel Zeit damit, Dialoge und Spielhandlungen ihrer Kinder akribisch zu dokumentieren, handschriftlich oder auch per Video.
Anschlie?end wird das Beobachtete im Kollegenkreis diskutiert und interpretiert: Welche Themen besch?ftigen die Kinder gerade? Warum haben sie diese Anregung aufgenommen, die andere aber nicht? Wie kann ich dieses oder jenes Kind darin unterst?tzen, sein Projekt weiterzuentwickeln?. Das Kind, so sagen die Reggianer, ist stark, reich, m?chtig und kompetent. Was kann Erziehung anderes sein als die Kunst, diesen Reichtum und diese St?rke zu bewahren und zu f?rdern? Johanna Romberg ('GEO') in 'Aufbruch mit Null'
Die Kinder - wie sie ihre pers?nlichen Erfahrungen und Gef?hle wiedergeben - scheinen ganz allgemein eine Stadt zu beschreiben, die positiv, angenehm und einladend ist. "Sieh mal, so sage ich es: Reggio ist da, wo ich meine Schule, mein Haus und meine Freunde habe.' Kritische Elemente scheinen zu fehlen oder von den Kindern nicht beachtet zu werden. Anfangs ?berraschte dieser Aspekt uns Erwachsene, die wir mit beidem leben, mit 'Licht' und 'Schatten' der Stadt.
Woher kommt dieser Mangel an Kritik? Was k?nnten die Ursachen sein? Vielleicht sollten wir das Alter der Kinder ber?cksichtigen. Drei bis sechs Jahre - das ist ein Lebensalter, in dem das Erlebnis der Stadt von Erwachsenen begleitet und vermittelt wird. Was f?r Stadtf?hrer, aus verschiedenen Perspektiven heraus und mit anderen Schwerpunkten, w?rden ?ltere Kinder oder Heranwachsende produzieren?
Vielleicht liegt der Grund f?r den Mangel an Kritik darin, dass die Stadt den Lebenskontext f?r kleine Kinder bildet, den Ort f?r die Beziehungen, die f?r ihre pers?nlichen Erfahrungen bedeutsam sind. Oder die Ursache liegt darin, dass die Herausforderung, Reggio anderen Menschen vorzustellen, ein warmes, einladendes Gef?hl der Gastfreundschaft erzeugt, etwas, auf das die Kinder offenbar nicht verzichten k?nnen: 'Wenn sie herkommen, w?rde ich ihnen sagen: Geht und schaut euch alle anderen Orte in Italien an. Dann werdet ihr feststellen, dass Reggio wirklich sch?n ist!'
'Und wenn sie sagen, dass Reggio h?sslich ist, was machen wir dann?'
'Sie k?nnen gehen, wohin sie wollen! Aber ich w?rde sie in mein Haus einladen, so dass sie sehen k?nnen, wie sch?n es ist! Und dann, wenn ich sie in meiner Stadt herumf?hre, w?rde ich ihnen die besten Sachen zeigen: den Park, die Tauben, die Geb?ude. alles! Und dann die Bibliothek, die Statuen und die alten Dinge aus der Geschichte.'
Vielleicht liegt es vor allem daran, dass die Sicht der Kinder auf die Stadt optimistisch und voller Leben ist, offen f?r die Zukunft und zugleich fest in der Gegenwart verwurzelt. Ein Sinn f?r die Zukunft, der energisch fordert, dass man ihn wahrnimmt und mit ihm in Dialog tritt. Ein hartn?ckiges Gef?hl von Optimismus, das das Recht einfordert, Teil des Dialogs zu sein, der der Stadt Gestalt und Identit?t verleiht.